Treue zu sich selbst und anderen
Treue zu sich selbst bedeutet in erster Linie, zu den eigenen Sehnsüchten und zu den als wertvoll erkannten Richtlinien und Prinzipien zu stehen – und dadurch zu sich selbst. Diese Richtlinien und Prinzipien haben sich in den letzten Jahren nämlich ganz schön verändert. Doch was heißt das nun genau?
Treue zu sich selbst
Es bedeutet, den eigenen Wünschen und Träumen nachzugehen, mit dem Ziel, sich diese zu erfüllen, und dadurch zu sich selbst zu stehen. Von außen betrachtet mag das manchmal egoistisch oder rücksichtslos erscheinen. Welche Prioritäten gesetzt werden und wie die goldene Mitte gefunden wird, muss letztlich jeder für sich selbst entscheiden. Mitunter kann es sogar bedeuten, dass man eine Partnerschaft oder Ehe beenden muss, um dem eigenen Weg weiterhin zu folgen. Es kommt auch vor, dass Menschen erst nach langer Zeit merken, wie sehr sie in ein Fahrwasser geraten sind und sich von äußeren Bedingungen wie Beruf, Familie und Kindern über das für sie verträgliche Maß hinaus haben steuern lassen.
Befriedigung, Bedürftigkeit oder Bedürfnis?
Aber wie findet man heraus, was der wirklich richtige und eigene Weg ist? Wie erhalten wir Zugang zu Selbstfindung und Selbstbestimmung? Einer dieser Zugänge besteht sicherlich im gesunden Menschenverstand, andere sind Intuition, Meditation, Traumdeutung, vielleicht sogar Tagträume, die uns unsere tiefen Sehnsüchte und Wünsche offenbaren, also die Arbeit mit dem Unbewussten. Gleichzeitig werden wir bei der Suche nach dem eigenen Weg und der Treue zu uns selbst natürlich auch von äußeren Normen und Konventionen beeinflusst. Manchmal muss man einen hohen Preis zahlen, wenn man wirklich zu sich selbst stehen will.
Akzeptanz und Dankbarkeit?
Und ganz am Ende steht die Frage, ob wir nicht irgendwann auch etwas wirklich annehmen müssen – nämlich das, was wir haben –, um nicht stetig weiter auf der Suche nach etwas Besserem zu sein. Nach dem lukrativeren Job, dem schickeren Auto, dem geileren Sex – und besonders hier haben sich seit Einführung der Smartphones (und dem daran geknüpften Pornoskonsum) die Grenzen stark verschoben. Die Differenzierung zwischen Egobefriedigung und echten Bedürfnissen zu vollziehen, wäre eine echte Herausforderung und dieser werden wir uns in der Zukunft noch häufiger stellen müssen.
Treue in Freundschaften
Während die Treue in einer Partnerschaft im Sinne eines Bekenntnisses ein bewusst und meist ohne längere Entwicklung aufgebauter Umstand ist – man könnte fast sagen, sie wird mit der Entscheidung, in eine Beziehung zu treten, als ein Bestandteil dieser »mitgeliefert« –, ist die Treue zwischen Freunden eher das Ergebnis eines Entstehungsprozesses, der irgendwann eine gewisse Qualität erreicht. Dem eher verbindlichen Charakter der Treue in der Beziehung steht zunächst ein eher unverbindlicher und freiwilliger in der Freundschaft gegenüber. Jedoch kann die Treue zwischen Freunden manchmal eine Tiefe erreichen, die so manche partnerschaftliche Beziehung in den Schatten stellt. Die Abgrenzung zwischen Partnerschaft und Freundschaft ist nicht immer leicht und kann ebenfalls zu Konflikten führen.
Treue in der Familie
Da es sich bei Familie und Verwandtschaft um Schicksalsbeziehungen handelt, in die man hineingeboren wird, begegnet man darin dem Umstand der Treue in einer zunächst unfreiwilligen Form. Erst im Laufe der Zeit und abhängig von entsprechenden Erlebnissen im Familiengefüge kann sich dann eine freiwillige Treue – im Grunde aus der Unabhängigkeit heraus – entwickeln. Dadurch fällt das Spektrum der Treue innerhalb des familiären Rahmens sehr unterschiedlich aus. Dem Treueverständnis in Familiensystemen haftet gern das Image einer besonderen Bindung an, getreu dem Motto: »Blut ist dicker als Wasser«.
Treue zu Werten und Idealen
Anders als bei den vorherigen Treueformen geht es hier nicht um die Treue zu Personen, sondern beispielsweise um die Treue zum Beruf, zur Zugehörigkeit zu Vereinen oder Organisationen, aber auch zu Lebenseinstellungen.
Lutz (45) ist seit 20 Jahren mit Regina (42) verheiratet und beide haben eine Tochter (14). Die Familie lebt die Werte eines konservativen Bürgertums, was neben einem eigenen Haus zwei lebenslang sichere Jobs bedeutet – beide haben einen hohen Beamtenstatus und sind bis an die Zähne abgesichert. Finanziell ist alles im grünen Bereich, da kann nichts mehr schiefgehen. Allerdings gibt es doch einen Haken an der Sache: Lutz’ und Reginas Ehe. Lutz hatte nie einen Kinderwunsch, dennoch setzte sich Regina bei ihm durch. Seit die Tochter auf der Welt ist, sei die Beziehung tot, so Lutz. Es gäbe seither keinerlei Sexualität mehr zwischen ihnen. Die beiden hätten jedoch einvernehmlich beschlossen, des Kindes und der vielen Sicherheiten und Annehmlichkeiten wegen weiterhin zusammenzubleiben.
Lutz ist viel im Internet, hat sich dort auch schon mehrmals verliebt und reiht eine Affäre an die andere. Im Grunde benimmt er sich wie ein Single; er lebt sich aus und führt mit den jeweiligen Freundinnen oft sogar ein Doppelleben. Dabei behauptet er von sich, auf der Welt gäbe es keine treuere Seele als ihn. Er würde sich niemals von Regina trennen, davon hält ihn sein Sicherheitsdenken ab. Regina und Lutz haben ein Abkommen über eine offene Beziehung getroffen; Lutz geht davon aus, dass Regina ebenfalls mehrere Affären hat. Doch Genaueres wissen beide nicht, und so soll es auch bleiben.
Nun könnte man sich fragen, wem gegenüber Lutz treu ist. Er selbst hält sich nämlich für die treueste Seele der Welt. Ganz bestimmt sind Lutz und Regina ihrem Sicherheitsdenken gegenüber treu. Die beiden liegen noch im selben Bett und sitzen gemeinsam am Frühstückstisch, auch wenn da nur noch Kälte ist, wie Lutz sagt. Der Leidensdruck hat den Wert der Sicherheit noch nicht überstiegen. Nach außen wahren sie die Form der Familie, der sie trotz ihrer Außenbeziehungen absolut treu bleiben.
Fazit
Das Thema Treue oder vielmehr Untreue hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide verändert. Die Grenzen erweitern sich stetig. Sexualität wird immer mehr aus den Partnerschaften ausgelagert und durch Pornokonsum und Sextoys ersetzt, schließlich kommt die Leidenschaft in Langzeitbeziehungen irgendwann ja mal zu kurz oder ein Partner steigt aus der gemeinsamen Sexualität aus. Und spätestens hier entsteht der Konflikt zwischen Treue gegenüber dem Partner (sexuell zumindest) und der Treue zu sich selbst. Kein leichtes Thema, das beinahe schon philosophisches Potential besitzt.
Foto: © Monika Preisel (Zypern)