Warum Streit in Partnerschaften Sinn macht
„Wir haben uns gestritten!“ – diese Aussage löst im Allgemeinen etwas Negatives aus. Warum ist das eigentlich so? Und liegt im Streit nicht auch eine Chance?
Wir Menschen sind doch so unterschiedlich in unseren Ansichten, Werten, Meinungen, Gedanken … Was die Partnerschaft angeht, prallen dann zwei völlig fremde Welten aufeinander. Man muss sich mit einem Fünkchen von Verstand doch fragen, wie das eigentlich (dauer)harmonisch funktionieren könnte, da beide Beteiligten ganz eigene Vorstellungen, Wünsche, Bedürfnisse usw. haben (sollten). Dies wäre in meinen Augen nämlich nur möglich, wenn sich mindestens einer soweit verbiegt und an die Wegrichtung des anderen anpasst, dass Auseinandersetzungen vermieden werden. Erstaunlicherweise passiert gerade im ersten Beziehungsjahr genau das. Schwierig wird es allerdings danach, denn die Unzufriedenheit beginnt zu wachsen und häufig eskalieren Streitereien gerade dann ins Bodenlose. Was läge auch näher, als den Partner dafür verantwortlich zu machen? Weil nicht früh genug geredet wird und sich so einiges aufgestaut hat. Ein hoher Preis für Konfliktvermeider!
Der Vorteil
Positiver Streit dient dazu, sich weiter zu entwickeln und zu wachsen. Die Reibung mit anderen Menschen hilft uns dabei, zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung zu unterscheiden und durch die konstruktive Kritik unserer Mitmenschen zu entscheiden, was wir daraus als Wachstumschance annehmen wollen oder was wir möglicherweise beim anderen belassen, da es mehr mit ihm, als mit uns zu tun hat. Voraussetzung dafür ist jedoch eine entsprechende Reife, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Der Nachteil
Negativer Streit ist in der Tat schwierig, weil er in der Regel unter die Gürtellinie geht. Beschimpfungen, verbale, emotionale und mitunter sogar körperliche Gewalt kommen vor. Das kann daran liegen, dass der Partner in diesen Situationen zum „Gegner“ mutiert und uns nicht wohlwollend gegenüber steht oder wir ihm das zumindest unterstellen. Wir fühlen uns angegriffen und reagieren dann mit Gegenangriff, Erstarrung oder Flucht. Das ist leider nie hilfreich, sondern immer destruktiv. Es wirkt sich auf den Selbstwert aus – negativ versteht sich! -, und bei jedem Mal geht etwas mehr kaputt.
Warum ich?
Wir können davon ausgehen, dass das, was andere Menschen bei uns triggern, immer mit uns selbst zu tun hat und nicht mit dem anderen. Das ist die schlechte Nachricht, denn viel einfacher wäre es, wenn wir sagen könnten: der andere ist schuld! Hätte er nicht dies oder das gemacht oder gesagt, dann … Bei Streitpaaren in meiner Praxis höre ich beinahe immer: „Ich bin nur so, weil Du so bist!“ Die gute Nachricht daran ist, dass wir hier die Gelegenheit bekommen, uns zu reflektieren. „Warum rege ich mich grad so auf, was macht das mit mir und vor allem was hat es mit mir zu tun?“ Und es hat immer(!) etwas mit uns selbst zu tun. Nicht selten finden hier sogar traumatische Hintergründe.
Wie du mir, so ich dir!
Menschen, die eine gut ausgebildete Persönlichkeit haben, sind in den allermeisten Streitfällen in der Lage, bei sich zu bleiben. Sie müssen weder den anderen attackieren, noch flüchten oder regredieren nach dem Motto „Weil du mich jetzt verletzt hast, verletze ich jetzt dich!“ Diese Streitpaare verhalten sich nämlich oft wie Dreijährige im Sandkasten, die sich um die Schaufel zanken und wissen meist gar nicht, dass weder sie, noch der Partner etwas dafür können. Gelingt es, die Hintergründe bei dem Paar aufzudecken, finden sich meist Entwicklungstraumata, die gelöst werden müssen.
Fazit
Um den Sinn von Streit zu erkennen, finde ich entscheidend sich zu fragen: WER sagt mir WANN und WIE WAS? Kritische Äußerungen sollten in einer Partnerschaft doch nie zerstören, sondern Wachstum anregen. Wenn ich dem Partner Schlechtes unterstelle, muss ich mich fragen, warum ich mit einem Menschen zusammen bin, der mir Böses will. Reibung dient der Lebendigkeit und dem Wachstum. Und das geht nicht ohne Angst und Schmerz. Der gute Umgang mit Kritik will einfach gelernt sein.
Foto: © Stefan Linde