Was ist der häufigste Paarkonflikt?
Affären, Seitensprünge oder das Fremdgehen zählen zu den bekanntesten Partnerschaftskrisen. Aber sind sie das tatsächlich auch? Ich denke nämlich, dass sie lediglich eine Folge aus dem Paarkonflikt sind, den ich nach vielen Jahren in meiner Praxis immer wieder beobachtet kann. Und der größte Konflikt lautet ganz schlicht: Schieflage!
Was ist eine Schieflage in einer Beziehung?
Vielleicht haben Sie schon mal von einer Mutter-Sohn- oder Vater-Tochter-Beziehung gehört? Wie der Name schon aussagt, stehen hier keine zwei Menschen auf Augenhöhe, sondern es gibt eine Schieflage. Das hat übrigens nichts mit den äußeren Umständen zu tun oder zumindest nicht direkt. Es geht vielmehr um die innere Haltung der beiden Beziehungspartner zueinander.
Diese stehen in der Schieflage in einer Abhängigkeit zueinander, die manchmal ganz schön verborgen liegt und erst im therapeutischen Prozess an die Oberfläche kommt und sichtbar wird. Fast immer ist das ein Schock für die Beteiligten. Doch genau hier liegt die Heilungschance.
Es sei erwähnt, dass es diese Konstellationen natürlich auch in homosexuellen Beziehungen gibt. Da würden sie dann Mutter-Tochter- oder Vater-Sohn-Beziehung heißen, damit wir hier politisch korrekt verfahren;-). Ich bleibe in diesem Artikel bei den „klassischen“ Bezeichnungen.
Haben wir eine Mutter-Sohn-Beziehung?
Ich will kurz zusammenfassen, wie sich die Paardynamik hier darstellt und ansonsten auf zwei detailliertere Beiträge zum Thema verweisen. Der typische Verlauf sieht so aus, dass die Frau, zunächst meist um zu gefallen, einen Großteil der Dinge/Belange an sich reißt. Manchmal geschieht das auch aus einem Perfektionsanspruch heraus, da sie überzeugt ist, es am besten zu wissen oder zu können. Der Partner genügt ihren Ansprüchen nicht.
Dauerhaft führt das allerdings zu Überforderung und dadurch baut sich Groll auf. Das geschieht kontinuierlich und schleichend. Sehr häufig kommt es bei diesem Muster zu einem Kollaps spätestens dann, wenn (echte) Kinder dazukommen, denn die (vermeintliche) Verantwortung wächst damit auf ein ungesundes Maß heran. Es gilt für zwei weitere Menschen zu sorgen.
Der Mann hingegen genießt die Abgabe der Verantwortung in der Regel sehr und gelangt immer mehr zu der Überzeugung, dass er es ihr sowieso nicht recht machen kann. Seine anfänglichen Versuche werden irgendwann frustriert eingestellt. Dass dadurch immer mehr auf den Schultern der Frau lasten, registrieren beide erst dann, wenn es oft zu spät ist und die Liebesgefühle sich verabschieden oder andere Wege gehen.
Hier sei angemerkt, dass Paare so gut wie immer viel zu wenig miteinander reden. Zumindest über die wirklich wichtigen Dinge jenseits der oberflächlichen Gesprächsebene („Wer holt wann die Kinder ab und was essen wir morgen?“).
Mehr lesen zu Mutter-Sohn-Beziehungen: Wenn Frauen in der Partnerschaft zur Mutti werden – Teil 1 und Wenn Frauen in der Partnerschaft zur Mutti werden – Teil 2.
Haben wir eine Vater-Tochter-Beziehung?
Bei den Paaren, die zu mir in die Beziehungspraxis kommen, ist der Mann bis heute immer noch älter als die Frau, obwohl sich das gerade etwas verändert. Oft ist er beruflich wegen des Altersvorsprungs schon weiter vorangeschritten und manchmal sogar besser ausgebildet. Fast immer hat er auch das höhere Gehalt. Ob er daher auch mehr Lebenserfahrung hat, sei dahingestellt, jedenfalls wirken sich große Altersunterschiede fast immer ungünstig auf eine Schieflage aus. Gerade hier sieht man, dass die innere Haltung viel entscheidender ist, als die äußeren Umstände.
Die Dynamik ist, dass der Mann in dieser Konstellation oft den versorgenden Teil übernimmt. Eine Rollenverteilung, die häufig schon in den Ursprungsfamilien so gelebt und selten hinterfragt wird. Daraus haben beide einen Nutzen. Die Frau fühlt sich in materiell sicher, sie kümmert sich um die Kinder und stellt häufig ihre Karriere hinter der ihres Mannes an. Der Mann hingegen ist durch seine klare Rolle ebenfalls in (vermeintlicher) Sicherheit und hat die Kontrolle über das Geschehen. Er sitzt materiell also am längeren Hebel.
Dieses System kollabiert spätestens dann, wenn die Frau beginnt nach vorne zu streben. Sie beginnt möglicherweise wieder zu arbeiten, wenn die Kinder größer werden und keine Rundum-Betreuung mehr benötigen. Ihr Weg in die eigene Unabhängigkeit kann beginnen. Dadurch werden die Karten neu gemischt und die Rollen anders verteilt. Hier krankt es gerne daran, dass zu wenig miteinander gesprochen wurde und die Bedürfnisse zu lange unterdrückt oder unberücksichtigt geblieben sind. In vielen Fällen gibt es eine ziemlich abrupte Veränderung bei den Frauen, die manchen Mann mit großem Unverständnis zurücklassen.
Wenn die Augenhöhe in der Partnerschaft fehlt
Ich glaube, dass Augenhöhe etwas Existentielles ist. Für mich hat es sogar etwas mit Würde zu tun. Es ist das Gegenteil von einem Machtverhältnis und die tun keinem Menschen gut. Ob im Job, zwischen Eltern und Kindern oder in Freund- und Nachbarschaft gilt das genauso, wie in einer Liebesbeziehung. Anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen ist allerdings wirklich eine Kunst und erfordert entsprechende Reife.
Zurück zu den Schieflagen: Wo Macht ist, gibt es auch Ohnmacht und jeder kennt dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit. Leider sind nur wenige Menschen in ihrer Entwicklung an dem Punkt, an dem sie anderen auf echter Augenhöhe begegnen können. In meiner Praxis beobachte ich jeden Tag, wie Partner sich auf Kosten des anderen in die Machtposition zu bringen versuchen. Derjenige, der sich unterlegen fühlt, holt zum Gegenschlag aus und will den „Gegner“ (ehemals Partner) runterdrücken, um selbst von Ohnmacht in die Machtposition zu gelangen. Das Machtspiel hat begonnen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass Beziehungen, die diesem Prinzip unterliegen, keine liebevollen, wohlwollenden oder wertschätzenden Partnerschaften sein können. Jedoch können sie oft jahrelang, manchmal sogar ein Leben lang „funktionieren“. Aber das hat seinen Preis. Im Grunde für beide, oft auch für die Kinder. Denn das Paar steht in starker Abhängigkeit zueinander, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht so leicht zu erkennen ist. Gefühle wie Frust, Wut, Verzweiflung, manchmal sogar Hass sorgen dafür, dass sich die „Liebe“ dann schleichend verabschiedet.
Fazit – Machtkämpfe vermeiden und Augenhöhe leben
Ich glaube daran, dass wir bessere Beziehungen hätten, wenn mehr Menschen im Umgang miteinander auf Augenhöhe wären. Es geht weder demjenigen gut, der die Macht ausübt (außer empathielosen Psychopathen!), noch demjenigen, der darunter leidet und dennoch ist und bleibt die Schieflage der häufigste Paarkonflikt, aus dem heraus sich alle anderen Konflikte überhaupt erst entwickeln.
Entweder kämpfen Paare jahrelang um ihre Autonomie innerhalb der Beziehung oder einer resigniert irgendwann. Dann kommt es meist zur Trennung und nicht selten ist das Sprungbrett dafür eine Außenbeziehung.
Beziehungen sollten kein Kampf sein, sondern ein Spiel. Das kann nur auf Augenhöhe stattfinden, sonst verliert sich die Leichtigkeit und Schwere übernimmt die Führung. Machtkämpfe haben immer den Preis der Lebendigkeit. Man sollte unbedingt dafür sorgen, immer eine Wahl zu haben. Dafür ist viel Reife erforderlich und die bekommen wir nur durch Wachstum und (Persönlichkeits-)Entwicklung. Aber das lohnt sich immer. Denn ich glaube fest daran, dass wir eine friedlichere Welt hätten, wenn wir bessere Beziehung führen würden.
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