Was unser Entwicklungsstand über uns aussagt
Es ist immer wieder erstaunlich, wie Eigen- und Fremdwahrnehmung bei uns Menschen auseinanderklafft. Ganz extrem fällt das in Bezug auf den eigenen Entwicklungsstand auf. Paare, die zu mir kommen, sind felsenfest davon überzeugt, dass einer von beiden weiter entwickelt ist, als der andere. Und das Lustige (oder Tragische) daran ist, dass der Partner dieselbe Wahrheit auch für sich beansprucht.
Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer begraben: Rechthaberei, Machtkämpfe, alles kein Zeichen für einen hohen Reifegrad. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass der Partner einen weitaus geringeren Entwicklungsstand hat, als man selbst und ist eher als Zeichen für die eigene Unreife zu betrachten.
Wenn wir uns einen Partner suchen
Niemand ist davor gefeit auf Menschen zu treffen, die sich tatsächlich ganz woanders befinden als man selbst. In diesem Fall geht man jedoch nach einem Gespräch oder Date wieder auseinander und stellt fest: War nett, aber passt nicht. Tun sich beide aber zu einer Partnerschaft zusammen, kann man davon ausgehen, dass beide einen zumindest sehr ähnlichen Entwicklungsstand haben und vorerst die Grundlage bildet.
Falls Du jetzt innerlich (oder auch äußerlich) rebellierst, weil Du vielleicht an eine frühere Beziehung denkst, wo sich das anders dargestellt hat (aus Deiner Sicht), dann muss ich Dich enttäuschen. Es geht hier jetzt um den Anfang einer Beziehung, wo wir gerade gemäß unserer Reife, umso höhere Erwartungen in den Partner projizieren, desto geringer unser Entwicklungsstand ist. Und dann sind wir maßlos enttäuscht, dass sie keine Erfüllung finden, zumindest nicht dauerhaft.
Wenn wir einen Partner haben
Es ist mehr als denkbar und gerade in meiner Beziehungspraxis an der Tagesordnung, dass Paare durch verschiedene Einflüsse und Erfahrungen unterschiedliche Entwicklungen machen. Das kann geschehen, wenn ein Partner eine Ausbildung macht, berufliches Coaching oder Therapie in Anspruch nimmt.
Derjenige kann sich kaum dagegen wehren, hierbei eine Entwicklung seiner Persönlichkeit in Kauf zu nehmen. Wenn das Paar nicht in gutem und engen Austausch (heute sagt man Synchronisation) steht, beginnt es sich spätestens hier auseinanderzuleben. Gemäß dem Motto: Wenn einer sich entwickelt, muss sich auch der andere entwickeln! Ob er will oder nicht. In der Praxis wehren sich natürlich viele Menschen dagegen, wobei genau hier die Riesenchance zu persönlichem Wachstum und Heilung liegt.
Entwicklung muss nicht heißen es dem Partner eins zu eins gleichzutun und auch eine Ausbildung oder Therapie zu starten, sondern sich über die neuen Erkenntnisse und Schritte auszutauschen. Engmaschig und interessiert, damit der eine am Wachstum des anderen teilhabt. Erfolgt das nämlich nicht, wird die Beziehung irgendwann einschlafen oder sogar abrupt enden, wenn das partnerschaftliche „Koma“ so lange anhält, dass ein Nebeneinander statt einem Miteinander vorherrscht.
Wenn sich die Spreu vom Weizen trennt
Was heißt jetzt eigentlich Entwicklungsstand und Reife und ist das überhaupt messbar? Jeder kennt Paare, die sich wie die Kesselflicker streiten und man kriegt das Gefühl im Kindergarten oder Sandkasten zu sein. Sie streiten wer wem das Sandförmchen oder die Schaufel weggenommen hat und das geht solange, bis beide ihre Munition verschossen haben und völlig am Ende sind. Gerade diese Paare sind absolut davon überzeugt, dass der jeweils andere vom eigenen Entwicklungsstand meilenweit entfernt ist.
Gerade hier liegt die Chance zur eigenen Entwicklung und es braucht nur die Bereitschaft zur Reflexion. Was hat das Ganze mit einem selbst zu tun, statt mit dem Partner? Die Bereitschaft sein eigenes Verhalten zu reflektieren und ggf. zu verändern ist Reife und zeigt einen hohen Entwicklungsstand.
Streitende Paare haben übrigens nicht weniger Reife als harmonische Paare, sondern ihr Verhalten ist nur viel sichtbarer. Die sogenannten Harmonie-Paare leben ihre Konflikte, die sie genauso haben wie alle anderen, unterschwellig aus. Sichtbar ist hier der vermeintliche Respekt, der nicht aus Toleranz heraus erfolgt, sondern aufgrund mangelnder Konfliktfähigkeit. Das sind auch diejenigen Paare, die meistens keine Sexualität mehr (miteinander) haben. Der Groll, die Wut und andere Gefühle, werden nicht offen gezeigt. Durch die fehlende Auseinandersetzung kommt es ebenso wenig zu persönlichem Wachstum wie bei den Streithanseln.
Ein hoher Entwicklungsstand entspricht also immer der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Reife Paare, deren Lebensaufgabe weder in ständigem Streiten, noch im Umhertreiben in ihrer Harmoniesuppe besteht, ziehen gemeinsam an einem Strang. Sie haben eine solide Basis, die in etwa lautet: Wir wissen noch nicht genau WIE, aber wir wissen DAS wir es schaffen und zwar gemeinsam! Sie haben ausreichend Selbstvertrauen und dadurch auch Vertrauen in den Partner und in die Beziehung, um den Mut für erforderliche Schritte aufzubringen.
Fazit
Es ist hilfreich für sich selbst zu klären, was genau Partnerschaft für einen bedeutet? Brauche ich einen Partner, weil es dazugehört, weil ich vielleicht ohne Partner niemand bin (oder zumindest mehr MIT ihm), weil er meine Bedürfnisse erfüllen soll oder sogar meinen Selbstwert steigern? Oder wünsche ich mir einen Partner an meiner Seite, mit dem ich gemeinsam wachsen kann und gerade dadurch das Beste aus mir herausholen, was möglich ist?
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