Wenn es in der Partnerschaft nur ein ICH gibt
In meiner Praxis höre ich oft Sätze wie: „Wenn wir gemeinsam Sport machen oder in die Berge gehen, dann gibt er das Tempo vor und ich muss hinterher hecheln. Er denkt nur an sich, nie an mich.“ Oder: „Er will noch keine Kinder, aber ob ich welche will und ob mir die Zeit davonläuft, das interessiert ihn nicht. Er bestimmt einfach für uns beide.“ Das höre ich so übrigens von Frauen und nicht von Männern.
Es gibt zahlreiche Erklärungen für solches Verhalten. In jedem Fall handelt es sich dabei um Menschen, die nur an sich denken und in erster Linie daran, was für sie gut ist. Man bekommt das Gefühl, sie wissen es nicht oder haben vergessen, dass eine Partnerschaft auch immer aus mindestens einer weiteren Person besteht, für die man zwar nicht verantwortlich ist, aber ein gewisses Mindestmaß an Interesse für sie doch mitbringen sollte.
Schlechte Erfahrungen
Menschen, die schlechte Erfahrungen in Beziehungen gemacht haben, können in eine Position geraten, wo sie feststellen, dass der Weg des WIR nicht gut war, vermutlich weil sie es übertrieben haben, so dass die Gefahr besteht, ins Gegenteil kippen. Das wäre ein gängiges Verhaltensmuster. Natürlich ist das nicht der Sinn der Sache, denn von einem Extrem ins andere zu wechseln, hat nichts Entspanntes, sondern immer etwas Zwanghaftes und Unausgeglichenes. Somit auch kein Wachstumspotential.
Balance zwischen Egozentrierung und Partnerzentrierung
Letzte Woche habe ich über das fehlende ICH in der Partnerschaft geschrieben, also wenn es nur noch ein WIR gibt und man vor lauter Einheitsbrei seine Eigenständigkeit verliert. Dies nennt man partnerzentriertes Verhalten.
Heute geht es aber um egozentriertes Verhalten, was etwas schwarz-weiß klingen mag und nach Entweder-Oder. Wenn Du meinen Blog schon länger verfolgst, weißt Du, dass es immer um die Balance geht, also um das Sowohl-als-auch. Das ist insofern schwer, wenn die Fähigkeit fehlt, hin- und herzuschwingen zwischen Partner- und Egozentriertheit, was ein stetiger Prozess ist. Sich selbst im Blick zu haben, aber zugleich den anderen ebenfalls. Partnerschaft bedeutet nicht Entweder-Oder.
Balance in der Sexualität
Besonders in der Sexualität wird sichtbar, ob Menschen auf sich bezogen oder auf den Partner fokussiert agiert. Es lohnt sich immer ein Blick auf das eigene Verhalten. Beobachte Dich dabei, wie Du in Kontakt mit Deinem Partner bist. Achtest Du mehr auf ihn, was er mag, macht oder von Dir erwartet? Oder bist Du sehr bei Dir und bekommst ohnehin nicht mehr viel mit? Vielleicht seid Ihr auch so gut im Kontakt (beide!), dass es sich wie ein Fluss anfühlt, der unaufhaltsam, aber stetig fließt. Dann brauchst Du gar nicht mehr weiterlesen.
Solltest Du Sex oft als Aufwand empfinden und gar als notwendiges Übel, dann versuche mal prüfen, wie Deine Gedanken dazu sind und inwieweit Du den Fokus auf Dich bzw. Deinen Partner oder Partnerin legst. Je mehr er nämlich auf dem Partner liegt, desto anstrengender wird Sex für Dich werden.
Narzisstische Züge
Das fehlende Wir-Gefühl in Zusammenhang mit Narzissmus steht meist in engem Zusammenhang. Narzissten lassen ihre Partner nie wirklich nah an sich heran. Aufgrund der eigenen Bedürftigkeit, die sie unter allen Umständen zu verbergen versuchen, spielen sie häufig etwas Kühles, Abweisendes vor. Durch die fehlende Empathie kann ein narzisstischer Mensch die Bedürfnisse anderer Menschen nicht wahrnehmen, was ein Selbstschutz ist, denn er würde sonst seine eigenen (unerfüllten) Bedürfnisse erkennen. Die Angst und der Schmerz davor sind einfach zu groß. Und das ist der Grund, warum man am besten erst gar kein WIR aufbaut, sondern besser beim ICH bleibt.
Fazit
Wenn ein Paar miteinander leben will, dann funktioniert das nur mit der Fähigkeit innerhalb einer Partnerschaft sowohl ein ICH als auch ein WIR leben zu können. Sich gleichermaßen auf einen anderen Menschen einzulassen kann man nur, wenn man auch die Fähigkeit hat, sich entsprechend abzugrenzen und bei sich bleiben zu können. Das betrifft auch wiederum die Sexualität in erheblichem Maße. Fehlt diese Fähigkeit, wird es keine echte Verbindung geben, aus lauter Angst sich zu verlieren und im wahrsten Sinn des Wortes irgendwie in der Beziehung auszulösen.
Foto: © privat (Italien, Cinqueterre)