Wirklich tolerant oder nur konfliktscheu?

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Es ist immer wieder erstaunlich, wie Fremd- und Eigenwahrnehmung in Bezug auf die eigene Person auseinander klaffen können. Dazu muss man verstehen, dass unser Bewusstsein die Dinge so hindreht, wie sie am besten für uns passen und wir möglichst gut (vor anderen) dastehen. Es konfabuliert sozusagen.

Weil Toleranz gerade in der heutigen Zeit ein Gütesiegel zu sein scheint, ist es ein immer gern erwähntes Adjektiv meiner Klienten. Klar, wer würde sich schon Intoleranz auf die Fahne schreiben wollen? Häufig ist aber der Wunsch der Vater des Gedanken, gerade wenn man den Leuten etwas auf den Zahn fühlt. Übrigens sind Therapeuten dafür bestens geeignet, denn ihre Aufgabe ist es, Menschen unvoreingenommen den (Außen)spiegel hinzuhalten.

Konflikte

Ich möchte die Begriffe, die sich rund um das Thema Konflikte tummeln, ein bisschen besser ordnen und sortieren und meine Sichtweise darstellen. Der Hauptjob einer Paartherapeutin besteht aus Konflikten. Ob es darum geht, wer mehr im Haushalt tut, wer sich mehr um die Kinder kümmert, wem von beiden es schlechter geht oder wer mit wem keinen Sex (mehr) hat – Konflikte ohne Ende und die Unterstützung bei der Suche nach Lösungen füllen meinen Arbeitsalltag.

Es geht keinesfalls darum Konflikte zu vermeiden, was eh nicht möglich wäre (und gesund schon gar nicht), sondern es geht darum, sie gut zu bewältigen. Hier liegt der Hase im Pfeffer immer begraben.

Konfliktscheu

Menschen, die nicht gelernt haben Konflikte auszuhalten, werden immer versuchen müssen, diese irgendwie unter dem Teppich zu halten. Koste es was es wolle. Nach dem Motto: Wenn ich nicht drüber rede, ist es auch nicht passiert und morgen ist wieder ein neuer Tag.

Wer in einer Auseinandersetzung daran denkt, dass der Partner ihn verlassen wird, falls er nicht einlenkt, ist unfrei in seinem Handeln und zutiefst abhängig vom Gegenüber. Diese Menschen bezeichnen sich besonders gerne als tolerant, weil sie davon überzeugt sind, aus freiem Willen zu entscheiden, nachzugeben oder kompromissfähig zu sein. Oft haben sie in ihrer Kindheit ein Schuldthema entwickelt und wurden zu überangepasstem Verhalten gezwungen. In ihren Liebesbeziehungen holt sie ihr konfliktscheues Verhalten aber wieder ein.

Ein wirklich toleranter Mensch ist jemand, der zwischen wichtigen (hier ist mein Standpunkt für den ich einstehe) und vermeidbaren Konflikten (fünf gerade sein lassen zu können) unterscheiden kann. Also ein Mensch, der auch tatsächlich eine Wahl hat. Und das sind die wenigsten.

Harmoniesüchtig

Meisten wird dieser Begriff von Leuten genannt, denen ihre Konfliktscheue ausreichend bekannt ist und die auch einen gewissen Leidensdruck dahingehend haben. Ihnen ist bewusst, dass sie im Grunde keinerlei Wahl haben, sondern in Konflikten immer den Kürzeren ziehen. Sie haben oft schlechten Selbstwert, tun sich schwer für sich selbst einzustehen, treffen ungern Entscheidungen und sind im Allgemeinen sehr unsichere Persönlichkeiten. Alles Handeln orientiert sich am geringsten Konfliktpotential. Ihre Emotionen entladen sich übrigens gerne in passiv-aggressiven Verhalten.

Wie das Wort Sucht in dem Wort „harmoniesüchtig“ schon beschreibt, geht es dabei immer um Abhängigkeit. Dies impliziert bereits keine Wahlmöglichkeiten zu haben. Derjenige muss einfach, in diesem Fall harmoniesüchtiges Verhalten an den Tag legen. Und das tun sie nicht aus reiner Menschenliebe, Gefälligkeit oder Selbstlosigkeit. Sie geben vor, den Partner zu schonen, aber schonen in allererster Linie sich selbst.

Konfliktfähig

Hier siedele ich die goldene Mitte an. Menschen, die sich in einer guten Balance befinden, die gelernt haben, Verantwortung für sich zu übernehmen und nicht den anderen verantwortlich zu machen, wenn sie einmal außer Balance geraten und zu sehr in den Extremen hängen. Sie stellen leider eine Minderheit dar, denn es braucht einen ziemlich hohen Reifegrad, der nur durch (Eigen)Reflexion entstehen kann.

Bei unbewusste Menschen, die in ihren Beziehungen dieselben Muster einfach nur weiterleben, handelt es sich um erlerntes Verhalten in ihren Herkunftsfamilien. Sie kommen entweder aus sehr konfliktträchtigen Familien, wo Streit und lautstarke Auseinandersetzungen an der Tagesordnung standen (und sie dadurch entwicklungstraumatisiert wurden) oder aus extrem konfliktscheuen Familien, wo jedwedes Konfliktpotential unter den Teppich gekehrt wurde (daher fehlende Vorbilder) und „Happy Family“ gespielt wurde.

Konfliktfreudig

Diese Menschen haben keine Angst vor Konflikten und diskutieren die Dinge gern aus. Leider übersehen sie manchmal die Grenze, ob das notwendig ist oder nicht. Sie wollen oft auch einfach nur Recht haben. Dieses Rechthaben dient insbesondere ihrer eigenen Stabilität, die in Diskussionen oder konflikthaften Situationen schnell ins Wanken gerät. Dann schrecken sie nicht davor zurück, die eigene Stabilität notfalls auch durch die Destabilisierung des Gegenübers, wieder herzustellen.

Ihre große Herausforderung ist es, hierbei mehr Sensibilität zu entwickeln und ihr eigenes Verhalten zunächst unter die Lupe zu nehmen. Denn die allermeisten Menschen haben gelernt, sich auf Kosten anderer zu stabilisieren und Konflikte konfrontativ zu lösen: Entweder du oder ich, als wenn es kein Dazwischen gäbe.

Konfliktsüchtig

Diese Menschen können ohne Streit gar nicht leben. In vielen Fällen schaffen sie dadurch Distanz statt Nähe. Dies ist eine Überlebensstrategie, die echte Bindung verhindert. Diejenigen, die unter Bindungsangst leiden, wählen häufig Streit als Rettungsverhalten, damit der Partner ihnen ja nicht zu nahe rückt. Das geschieht besonders dann, wenn es gerade besonders gut in der Beziehung läuft und sich Bindung entwickelt. Es darf nicht zu lange zu gut laufen.

In ihren Beziehungen herrschen dauerhaft Machtkämpfe und es geht ausschließlich um Rechthaberei. Augenhöhe ist für sie ein absolutes Fremdwort und der Partner wird schnell in einem Konflikt zum Gegner, der nur mit Abwertung bekämpft werden kann. Diese Menschen wurden in ihrer Kindheit oft ungerecht behandelt oder empfanden es zumindest so. Leider sind bei ihnen auch selbsthassende Tendenzen entstanden, die sie dann auf ihr Umfeld projizieren. Sie haben einige Entwicklungsarbeit nötig, wenn sie sich daraus befreien wollen.

Fazit

In meiner Praxis habe ich es immer mit drei Arten von Paaren zu tun:

  • Streitpaare (die können nicht mit und nicht ohne einander) – sie leben quasi dauerhaft gegeneinander
  • Harmoniepaare (die gelten im Freundes- und Bekanntenkreis immer als Traumpaar!) – sie leben jedoch nebeneinander (weil sie sich nie wirklich auseinandersetzen)
  • und diejenigen, die an einem Strang ziehen (das sind die, die oft noch nicht wissen WIE, aber immer wissen, DASS sie es schaffen!) – sie leben ein echtes Miteinander

Die Entscheidung in einer Partnerschaft auf Augenhöhe zu sein, beinhaltet den Mut, die Disziplin und letztendlich die Fähigkeit sich zunächst immer erst selbst zu reflektieren, um möglichst wenig Eigenes auf den Partner zu projizieren. Nur so ist eine friedliche Koexistenz erreichbar, als gesunde und tragfähige Basis.

Viele Menschen haben aber diesen Mut nicht, sondern die Angst sich mit sich selbst auseinanderzusetzen überwiegt, und somit bleibt der Blick auf den Partner gerichtet, statt auf sich selbst. Heilung innerhalb einer Partnerschaft ist dann leider nicht möglich.

 

Foto: © privat (Isarkanal München)

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